Highlights - Das Wichtigste in Kürze:
- Prävention bezeichnet eingeleitete Maßnahmen mit dem Ziel, Risiken zu vermindern oder schädliche Folgen abzuschwächen.
- Durch präventive digitale Angebote können Hilfesuchende schnell und kostengünstig erste Hilfestellungen angeboten bekommen. Diese sind von überall aus und bedarfsorientiert nutzbar. Anfängen einer Essstörung kann vorgebeugt und leichtere Symptome können reduziert werden.
- Es mangelt an evaluierten und vielfältigen Angeboten, gerade für Kinder und Jugendliche sowie Jungen und Männer.
- Außerhalb von Studien sind die digitalen Angebote meist nicht verfügbar. Die Studienbefunde weisen auf eine Reduzierung essstörungsbezogener Risikofaktoren hin, langfristige Effekte scheinen aber schwächer als bei der konventionellen Face-to-Face-Variante zu sein.
➦ Prävention im Bereich der Essstörung hat das Potenzial, eine große Anzahl von Personen mit leichten Symptomen und Risikofaktoren zu erreichen. Dadurch könnten sich entwickelnde Essstörungen verhindert oder das Ausmaß reduziert werden. Aktuell sind allerdings kaum digitale Angebote verfügbar und evaluiert. Aus diesem Grund können keine spezifischen Anwendungen empfohlen werden.
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Das ist Anna. Anna ist 18 Jahre alt und fühlt sich immer unwohler in ihrem Körper. Gerade im Vergleich mit ihren Idolen auf Instagram und TikTok setzt sie sich zunehmend unter Druck, die eine oder andere Diät auszuprobieren oder auch auf Mahlzeiten ganz zu verzichten. Die Sorge um ihr Gewicht nimmt in ihrem Leben immer mehr Raum ein.
In Annas Oberstufe wird dann eine Studie in ihrem Jahrgang durchgeführt. Im ersten Teil der Studie werden Fragen zu den Ernährungs- und Sportgewohnheiten gestellt. Im zweiten Teil werden daraufhin diejenigen Personen ausgewählt, die erste Anzeichen einer Essstörung aufweisen. Diese Personen, unter ihnen Anna, sollen dann über mehrere Wochen täglich mit einer digitalen Interventions-App arbeiten. In dieser App lernt Anna den kritischen Umgang mit Medieninhalten. Zusätzlich sieht sie, dass sie mit ihren Gedanken und Sorgen nicht allein ist und bekommt wöchentlich Tipps und Hilfsmaterialien bereitgestellt, die sie bearbeiten soll. Wenn sie einen Teil bearbeitet hat, bekommt sie von Essstörungsexpert*innen Feedback und weitere individuelle Unterstützung. Die zeit- und ortsunabhängige Nutzung ermöglicht es Anna, bei Bedarf direkt auf die App zuzugreifen. Da es Anna sehr unangenehm wäre, wenn ihre Schulfreundinnen etwas davon mitbekommen würden, wie sie Fragen zu ihrer Stimmung beantworten soll, spricht sie das unscheinbare Design der App besonders an. Sie fühlt sich dadurch sicher genug, das Programm auch in den Schulpausen zu nutzen. Als nach 3 Monaten die Studie zu Ende geht und die letzte Befragung ansteht, zeigt sich, dass Anna Fotos und Videos auf Instagram und TikTok deutlich kritischer betrachtet und sie sich weniger vergleicht und Sorgen um ihre Figur macht, als es früher der Fall war.
Anna: Die Studie tat mir im Großen und Ganzen wirklich gut. Vor der Studie war ich in meinem Denken immer fokussierter auf das Essen und den Sport. Durch die täglichen Übungen auf der App bin ich da ein bisschen ausgebrochen und habe mich auch wieder mehr anderen Dingen zugewendet. Ich habe viel Neues gelernt und gerade der kritische Umgang mit Social Media, die Reduzierung der Bildschirmzeit und das individuelle Feedback taten mir sehr gut. Nachdem die Studie dann allerdings beendet war, stand ich von einem auf den anderen Tag wieder ohne Anhaltspunkt da. Ich konnte die Inhalte der App nicht mehr nutzen und auch das Feedback über die App wurde abgestellt. Das finde ich schade, ich hätte die App gerne weiter genutzt.
1. Allgemeine Informationen (Begriffe, Definition, Potenzial, mögliche Einsatzbereiche):
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Digitale Angebote wie z.B. Apps oder Online-Interventionen ermöglichen es, mit relativ geringem finanziellen und organisatorischen Aufwand eine große Patient*innengruppe anzusprechen. In der Prävention, also der Vorbeugung, können digitale Interventionen auch diejenigen Patient*innen erreichen, die z.B. bereits erste Anzeichen einer Essstörung zeigen aber auf dem Land leben oder anderweitig Schwierigkeiten bei der Suche nach therapeutischen Angeboten haben. Digitale Angebote können dabei sowohl zeit- und ortsunabhängig als auch bedarfsorientiert genutzt werden. Bei korrekter Anwendung haben evidenzbasierte digitale Angebote das Potenzial, Sorgen bezüglich des Gewichtes oder erste essstörungsbezogene Risikofaktoren und Symptombelastungen zu vermindern. Zusätzlich spielt bei der Suche nach Hilfe nach wie vor die Stigmatisierung der Betroffenen eine Rolle. Betroffene haben Angst, in eine Schublade gesteckt und dadurch auf ihr Krankheitsbild reduziert zu werden. Derartige Ängste können durch die unscheinbar gestalteten Apps und Programme gelindert werden, wodurch der Zugang zur Hilfe erleichtert wird. Beachtet werden sollten aber auch die Nachteile, die mit digitalen Angeboten in der Prävention einhergehen. Zum einen sind die Angebote darauf ausgelegt, möglichst viele Personen mit Erkrankungsrisiko anzusprechen. Ob das Angebot für den oder die Einzelne*n daher hilfreich ist, ist nicht vorhersagbar. Auch ist nicht jedes Angebot für jede Person und ihre individuellen Bedürfnisse und Ängste geeignet und könnte dadurch möglicherweise mehr Unsicherheit als Abhilfe schaffen. Zudem könnten die Symptome unterschätzt werden und es wird ein präventives digitales Angebot genutzt, obwohl bereits weitere Schritte notwendig wären. Zusätzlich dazu gibt es aktuell nur wenige evidenzbasierte digitale Angebote in der Prävention. Die evidenzbasierten Angebote sind zudem nicht in Deutschland und vor allem an erwachsenen Frauen evaluiert worden und meist nicht öffentlich zugänglich.
Die Prävention durch digitale Angebote bei Essstörungen könnte dazu beitragen, dass Betroffene zeitig an ihrem Leidensdruck und essstörungsbezogenen Risikofaktoren arbeiten und sich dadurch eine ausgeprägte Essstörung nicht etablieren kann oder zumindest das Ausmaß beschränkt wird.
2. Evidenz/ Beispiele aus der Forschung
Trotz des Potenzials evaluierter digitaler Angebote in der Prävention stehen nur wenige hochwertige Studien im Essstörungsbereich zur Verfügung. Zudem sind diese digitalen Angebote meist nur innerhalb der Studie nutzbar und werden nicht öffentlich zugänglich gemacht. Bisherige Befunde zeigen, dass sich essstörungsbezogene Risikofaktoren reduzieren lassen, die Effekte allerdings langfristig geringer als bei konventionellen Face-to-Face-Varianten ausfallen. Im Folgenden werden drei evaluierte Programme kurz vorgestellt:
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Student Bodies2,3: Präventive Effekte in Subgruppen und Reduktion von Gewichts- und Figursorgen
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Ziel: Verringerung von Gewichts- und Figursorgen, Verbesserung des Körperbildes, Förderung einer gesunden Gewichtsregulierung, Verringerung von Essanfällen und die Verbesserung des Wissens über die mit Essstörungen verbundenen Risiken. Dazu wurde ein internetbasiertes kognitiv-behaviorales Interventionsprogramm eingesetzt.
Methode: Stichprobe aus 480 Frauen im Alter von 18-30 Jahren, die in San Diego oder in der Gegend von San Francisco in Kalifornien wohnten, ein erhöhtes Risiko für die Entwicklung einer Essstörung aufwiesen und einen BMI von mehr als 18 und weniger als 32 hatten. Die Teilnehmerinnen wurden nach dem Zufallsprinzip einer Kontroll- oder Untersuchungsgruppe zugeordnet. Sie nahmen an einem acht-wöchigen digital strukturierten kognitiv-behavioralen Programm mit einer asynchronen, moderierten Online-Diskussionsgruppe teil. Neun Monate nach der Intervention konnte das Material der ersten acht Sitzungen wiederholt werden. Es folgten zwei Follow-Up Untersuchungen nach einem Jahr und nach zwei Jahren. Bei jeder jährlichen Nachuntersuchung bewerteten die Interviewer*innen retrospektiv das Essverhalten für jeden Monat des Vorjahres mit einem strukturierten zeitlichen Rückverfolgungsansatz.
Ergebnisse:
➦ Signifikante Verringerung der Gewichts- und Figursorgen und stärkere Verringerung im Vergleich zur Kontrollgruppe nach der Intervention, nach einem und nach zwei Jahren.
➦ Kein allgemeiner signifikanter Unterschied beim Auftreten von Essstörungen zwischen der Interventions- und der Kontrollgruppe. Trotzdem reduzierte die Intervention signifikant das Auftreten von Essstörungen in zwei Untergruppen: 1. Teilnehmende mit erhöhtem BMI (≥ 25) bei Studienbeginn, 2. Teilnehmende mit kompensatorischen Verhaltensweisen bei Studienbeginn.
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Vergleichsstudie der Online-Programme Media Smart-Targeted (MS-T) und Student Bodies (SB): Verringerung der Essstörungssymptomatik mit MS-T bei schlechteren Sekundärergebnissen4:
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Ziel: Durchführung einer pragmatisch randomisierten kontrollierten Studie zum Vergleich zweier digitaler Interventionsprogramme (Media-Smart-Targeted und Student Bodies), die beide 9 Module umfassten und wöchentlich freigeschaltet wurden.
Methode: Stichprobe aus 575 jungen erwachsenen Frauen (Durchschnittsalter von 20,71 Jahren) aus Australien und Neuseeland, die ihr Körperbild verbessern wollten. Frauen wurden randomisiert in MS-T (N=191), SB (N=190) und Kontrollgruppe (N=194) verteilt. Primäre (Eating Disorder Examination-Questionnaire (EDE-Q) Global), sekundäre (Essstörungs-Risikofaktoren) und tertiäre (Essstörungen) Ergebnismessungen wurden zu Studienbeginn, nach dem Programm sowie nach 6 und 12 Monaten durchgeführt.
Ergebnisse: MS-T hat das Potenzial, das Essstörungsrisiko bei geringen Implementierungskosten zu senken (Geringere Essstörungssymptomatik nach 12 Monaten, höhere mentale Lebensqualität als in den Vergleichsgruppen). Allerdings schnitten die MS-T-Teilnehmenden bei 5 Variablen signifikant schlechter ab.
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eBody Project5: eBody erwies sich als wirksam, doch "Peer gewinnt"
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Ziel: Digitale Umsetzung des Body Project Programms (evidenzbasiertes konventionelles Präventionsprogramm). Kognitive Dissonanz von Verhalten und Überzeugungen schaffen und die Wirksamkeit über mehrere Jahre beibehalten.
Methode: Stichprobe aus 680 jungen Frauen (Durchschnittsalter von 21-22 Jahren) mit hohem Risiko für Essstörungen aufgrund von Körperbildproblemen, die an drei Universitäten in Oregon und Texas studierten. Sie wurden nach dem Zufallsprinzip in vier Gruppen verteilt (von Klinikern geleitete Body Project-Gruppe, von Peers geleitete Body Project-Gruppe, internetbasiertes eBody Project, Kontrollgruppe mit Lehrvideos). Digitale Version des Body Projects beinhaltete sechs 40-minütige Module, benutzergesteuerte Selbstbildungsaktivitäten und Spiele (z. B. Texting-Rollenspiele) parallel zum Gruppenprogramm (für Details 6). Der Abschluss der Module wurde von der Programmsoftware verfolgt. Die Teilnehmenden gaben zu Beginn der Studie, nach der Intervention sowie nach 6 Monaten, 1 Jahr, 2 Jahren, 3 Jahren und 4 Jahren Nachbeobachtungszeit eine Bewertung ab.
Ergebnisse:
➦ Stärkere Verringerung der Risikofaktoren und der Essstörungssymptome im Allgemeinen im Vergleich zur Kontrollgruppe.
➦ Bei dem von Peers geleiteten Body-Project-Programm zeigten sich stärkere Verringerungen als bei den Teilnehmenden des eBody-Projects. Zudem war beim von Peers geleiteten Programm das Auftreten einer Essstörung während der 4-Jahres-Follow-up-Phase signifikant niedriger (8,1%) als bei den eBody-Project Teilnehmenden (15,5%).
➦ Alle drei Body Project Interventionen (Body-Project geleitet von Klinikern, Body-Project geleitet von Peers und eBody-Projekt) schnitten besser ab als die Kontrollgruppe mit den Lehrvideos, wobei die durch Peers geleitete Gruppe besser abschnitt als das eBody-Project sowie im 4-Jahres-Follow-up weniger Erkrankte aufwies als die anderen. Es könnte demnach am effektivsten sein, wenn das Body-Project auf Peer-Leader verlagert wird, um die Implementierungsbarrieren, welche mit der Durchführung durch Kliniker verbunden sein könnten, zu überwinden.
3. Fazit und Empfehlungen
Trotz der geringen Zahl an erhältlichen digitalen Angeboten im Bereich der Prävention haben diese Angebote ein großes Potenzial. Digitale Angebote können es ermöglichen, unkompliziert sowie orts- und zeitunabhängig beim Auftreten erster essstörungsbezogener Risikofaktoren einzugreifen und das Leiden der Betroffenen zu verringern. Präventionsprogramme können vorbeugend von (potenziellen) Betroffenen genutzt werden, dennoch sollten immer das Individuum und das digitale Angebot aufeinander abgestimmt und mögliche weitere Schritte angedacht werden.1
Referenzen
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1Bauer, S. et al. (2015). Internetbasierte Prävention und Behandlung. In B. Herpertz-Dahlmann & A. Hilbert (Hrsg.), Essstörungen bei Kindern und Jugendlichen, S. 185-200, Kohlhammer.
2Taylor, C. B. et al. (2006). Prevention of eating disorders in at-risk college-age woman. Arch Gen Psychiatry, 63(8), 881/888. https://doi.org./10.1001/archpsyc.63.8.881
3Taylor, C. B. et al. (2016). Reducing eating disorder onset in a very high risk sample with significant comorbid depression: A randomized controlled trial. J Consult Clin Psychol, 84(5), 402/414. https://doi.org/10.1037/ccp0000077
4Wilksch, S. M. et al. (2018). Online prevention of disordered eating in at-risk young-adult women: a two-country pragmatic randomized controlled trial. Psychol Med, 48(12), 2034/2044. https://doi.org./10.1017/S0033291717003567
5Stice, E. et al. (2020). Clinical-led, peer-led, and internet-delivered dissonance-based eating disorder prevention programs: Effectiveness of these delivery modalities through 4 year follow-up. J Consult Clin Psychol, 88(5), 481/494. https://doi.org./10.1037/ccp0000493
6Stice E. et al. (2012). A preliminary trial of a prototype Internet dissonance-based eating disorder prevention program for young women with body image concerns. Journal of Consulting and Clinical Psychology, 80(5), 907/916. https://doi.org./10.1037/a0028016