Selbstmanagement und Selbsthilfe

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

Highlights - Das Wichtigste in Kürze:

 

  • Unter Selbstmanagement wird die Fähigkeit verstanden, die eigene Entwicklung in einem bestimmten Kontext eigenständig zu gestalten.
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  • Selbstmanagement-Apps oder Programme für Essstörungen können beispielsweise Elemente der Psychoedukation enthalten oder Übungen und Essprotokolle anbieten, die eigenständig über ein Smartphone ausgefüllt werden.
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  • Seit August 2023 stehen zwei geprüfte Online-Programme des Herstellers Selfapy für Bulimie und Binge Eating Störung dauerhaft zur Verschreibung durch Ärzt*innen und Psychotherapeut*innen zur Verfügung. Die Originalartikel wurden bislang nicht veröffentlicht.

 

Bei Betroffenen der Binge Eating Störung und von Bulimie können die jeweiligen Selfapy-Programme unter Berücksichtigung der Voraussetzungen und Kontraindikationen verschrieben werden (siehe Apps & DiGAs sowie Informationen des DiGA-Verzeichnisses). Weitere Anwendungen wurden mit teils positiven Studienergebnissen im wissenschaftlichen Kontext evaluiert, stehen jedoch häufig nicht für die freie Nutzung zur Verfügung. Gleichzeitig sind frei zugängliche digitale Anwendungen für das Selbstmanagement von Essstörungen nach derzeitigem Wissensstand nicht zu empfehlen. Sollten Sie Patient*innen behandeln, die damit bereits Erfahrungen gemacht haben, ist es von Vorteil, wenn Sie sich diese Anwendung selbst ansehen.

 

 

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Das ist Lena. Sie ist 15 Jahre alt und leidet seit mehr als einem Jahr an einer Binge-Eating Störung. Lena lebt bei ihrer Mutter, mit der sie sich gut versteht. Jedes zweite Wochenende verbringt sie in der neuen Familie ihres Vaters, der noch einmal geheiratet und ein Kind bekommen hat. Lena versteht sich nicht besonders gut mit der Frau ihres Vaters, möchte aber gern Zeit mit dem Baby verbringen. In der Schule wird sie wegen ihres Gewichts gehänselt. Abends kann sie sich oft nicht kontrollieren und kann einfach nicht aufhören Süßigkeiten und Chips zu essen, bis ihr schlecht ist. Im letzten Jahr hat sie mehr als zehn Kilo zugenommen!

Ihre Hausärztin hat Lena gesagt, dass sie an einer Binge-Eating Störung leide und sie an die Psychotherapeutin Frau Blume überwiesen. Diese hat aber erst in drei Monaten einen Platz frei, daher solle Lena jetzt erst einmal eine App nutzen. Die App fragt sie jeden Tag danach, wie es ihr geht und was sie gegessen hat. Auch werden Übungen angeboten, die sie anwenden kann, wenn wieder einmal alles vollkommen aussichtslos erscheint. Lena nutzt die App jeden Tag daheim, da sie nicht möchte, dass in der Schule jemand etwas davon mitbekommt.

Lena: Für mich war es wirklich hilfreich zu bemerken, dass es klare Auslöser für meine Essanfälle gibt. Irgendwann war mir klar, dass ich immer dann zu viel esse, wenn ich Stress in der Schule habe oder das Wochenende anstrengend war. Leider weiß ich immer noch nicht, wie ich das ändern könnte. Aber dafür werde ich ja schließlich bald meine Therapie beginnen.

3 Monate später…

Frau Blume: Als Lena zu mir in die Therapie kam, wirkte sie aufgeräumt und gut strukturiert. Sie hatte bereits gelernt ein Essprotokoll zu führen. Viele junge Menschen muss ich davon erst überzeugen. Durch die App waren Lena auch bereits Zusammenhänge zwischen ihren Essanfällen und ihrer Stimmung klar geworden. Es war eine hilfreiche Vorbereitung für die weitere Therapie.

 

1. Allgemeine Informationen:

Unter Selbstmanagement wird die Fähigkeit verstanden, die eigene Entwicklung in einem bestimmten Kontext eigenständig und unabhängig von äußeren Einflüssen zu gestalten. Digitale Selbstmanagement- oder auch Selbsthilfeprogramme enthalten unter anderem Materialien, Übungen und in der begleiteten Variante (s.u.) auch Kontaktmöglichkeiten, die Betroffene selbstständig nutzen können. Selbstmanagementprogramme bieten sich insbesondere dann an, wenn konventionelle Behandlungsangebote für Betroffene nicht verfügbar oder erreichbar sind. Sie können hilfreich sein, um Patient*innen auf eine Therapiesituation vorzubereiten, etwa, wenn diese auf einen Therapieplatz warten (siehe Videobeispiel) oder sich in einem Übergang zwischen einer stationären und einer ambulanten Behandlung befinden.

 

2. Evidenz/ Beispiele aus der Forschung

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Die Studienlage zur Wirksamkeit von Selbstmanagement ist besonders im Bereich der Depression gegeben: Hier konnte klar gezeigt werden, dass die Wirksamkeit von digitalen Anwendungen bei reinem Selbstmanagement, also so genannte unbegleitete ("unguided") Interventionen, denen mit einer Begleitung unterlegen sind1. Mit Begleitung ist dabei gemeint, dass aus der digitalen Anwendung heraus eine Kontaktmöglichkeit besteht, beispielsweise ein Therapeut oder eine Therapeutin angeschrieben werden kann, diese auf Eingaben im Tool reagieren und bei Bedarf Unterstützung anbieten kann.
Randomisiert-kontrollierte Studien im Bereich der Essstörungen gibt es dazu noch wenige. Insbesondere im Bereich der Wartezeitüberbrückung ist die Befundlage dünn. Eine Überblicksarbeit von 2020 fand sehr heterogene Ergebnisse, von denen nur eine Studie sich auf reine Internet-Selbsthilfe bezog. Darin wurde kein Effekt für Patient*innen mit einer Anorexie, Bulimie oder einer Binge Eating Störung gefunden2. Eine andere Arbeit zu Essstörungen bei Jugendlichen fand sieben Studien zur Wirksamkeit von Internet-Selbsthilfe. Darin wurde deutlich, dass alle Patient*innen besonders dann profitierten, wenn mindestens ein Support über E-Mail angeboten wurde. Insbesondere die Selbstmotivation, das digitale Programm auch zu Ende zu führen, wurde von den Patient*innen als kritisch gesehen.3
Was ist typischerweise in Selbstmanagement-Apps bei Essstörungen enthalten? Hier gibt es vor allem Ergebnisse aus dem amerikanischen Raum4: Unter 28 Apps, die über die App-Stores von Google und Apple gefunden wurden, waren Apps genannt, die Elemente der kognitiven Verhaltenstherapie anboten: Recovery Record, Rise up: Eating Disorder Help und Psychiatry Pro-diagnosis, info, treatment, CBT and DBT. Die Komponenten dieser Apps bieten Tools zur Selbsteinschätzung, zum Protokollieren des eigenen Essverhaltens, Übungen zur kognitiven Umstrukturierung und zur Verhaltensaktivierung.

 
Auf dem deutschen Markt gibt es derzeit zwei Digitale Gesundheitsanwendungen (DiGAs) des Unternehmens Selfapy für Bulimie und Binge Eating Störung. Diese können erwachsenen Personen ab 18 Jahren zur Anwendung im Selbstmanagement von Ärzt*innen und Psychotherapeut*innen verschrieben werden. Positive Versorgungseffekte im Sinne einer Symptomreduktion wurden für beide DiGAs bestätigt, die zugehörigen Originalstudien jedoch noch nicht veröffentlicht. Aktuell verfügbare Informationen zu beiden DiGAs finden Sie in der Rubrik Apps & DiGAs. Zusätzlich ist die App Recovery Record, zu der konkrete Studienergebnisse vorliegen, in Deutschland frei zugänglich. Weitere Veröffentlichungen beziehen sich auf Programme, die nur im Rahmen von Studien entwickelt und geprüft wurden.

 

  • INTERBED Studie1: Kein Ersatz für eine Face-to-face Therapie, dennoch Potenzial als niederschwelliges Alternativangebot

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    Ziel: Überprüfung der Effektivität einer internet-basierten Selbsthilfe für Binge Eating Störungen im Vergleich zur Face-to-face Therapie.

    Methode: 178 erwachsene Patient*innen in ambulanter Behandlung, 20 face-to-face Sitzungen vs. 11 Module der internet-basierten Selbsthilfe.

    Ergebnis: Face-to-face Therapie führt zu schnelleren und größeren Therapieerfolgen. Die internet-basierte Selbsthilfe führte aber ebenso zu (wenngleich leichteren) Verbesserungen der Binge-Eating Symptomatik und hat sich als gutes, niederschwelliges Alternativangebot erwiesen.

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  • Internetbasierte begleitete Selbsthilfe2: 25% Dropout durch geringe Adhärenz bei Programmfunktionen

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    Ziel: Bestimmung der Faktoren, die die hohen Dropout-Raten bei Selbstmanagement-Programmen erklären.

    Methode: 89 erwachsene Patient*innen mit Binge Eating und Übergewicht erhielten über 4 Monate hinweg eine internet-basiertes begleitetes Selbstmanagementprogramm.

    Ergebnis: 25% der Teilnehmenden beendeten das Programm frühzeitig. Hauptgrund war nicht die subjektive negative Evaluation durch die Patient*innen sondern die fehlende Adhärenz mit dem Programm beispielsweise bzgl. der Essprotokolle.

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  • Break Binge Eating3: Mehrheit der Nutzer*innen greifen auf Materialien zur Selbsthilfe zu

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    Ziel: Untersuchung der Nutzer*innen-Profile und des Nutzungsverhaltens einer internetbasierten Selbsthilfe-Plattform für Essstörungen.

    Methode: Datenanalyse durch Google Analytics und Überprüfung von 786 Nutzer*innen-Profilen.

    Ergebnis: Mehr als 46.000 Nutzer*innen haben weltweit die Plattform besucht. Von der Mehrheit wurde auf das Material zur Selbsthilfe zugegriffen. 81% gaben an, Hilfe zu suchen. 87% der Nutzer*innen zeigten mindestens ein essstörungsrelevantes Verhalten innerhalb des letzten Monats.

 

3. Fazit und Empfehlungen

Bei Betroffenen der Binge Eating Störung und von Bulimie können die jeweiligen Selfapy-Programme unter Berücksichtigung der Voraussetzungen und Kontraindikationen verschrieben werden (siehe Apps & DiGAs sowie Informationen des DiGA-Verzeichnisses). Ein positiver Versorgungseffekt wurde bestätigt, die Originalartikel jedoch noch nicht veröffentlicht. Nach Veröffentlichung sollten die Artikel zur Einschätzung der Eignung der Programme für Patient*innen geprüft werden. Informationen zur Durchführung und Auswertung der Studien werden auf dieser Seite ergänzt. Zum gegenwärtigen Zeitpunkt können wir keine weiteren, u.a. frei zugänglichen Programme oder eine App für ein reines Selbstmanagement bei Essstörungen empfehlen. Dies könnte sich ändern, wenn die Studienlage besser geworden ist. Wir vermuten, dass besonders so genannte begleitete "guided" Programme, also solche, bei denen vom Programm aus im Notfall auch ein konkreter Kontakt zu Behandelnden angeboten wird, eine sinnvolle Ergänzung in der Versorgung darstellen können.

 

Referenzen

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1Karyotaki E, et al. Internet-Based Cognitive Behavioral Therapy for Depression: A Systematic Review and Individual Patient Data Network Meta-analysis. JAMA Psychiatry. 2021 Apr 1;78(4):361-371. doi: 10.1001/jamapsychiatry.2020.4364. PMID: 33471111; PMCID: PMC8027916.
2Ahmadiankalati M, et al.: Review of Randomized Controlled Trials Using e-Health Interventions for Patients With Eating Disorders. Front Psychiatry 2020, 11:568.
3Dufour R, et al.: The use of technology in the treatment of youth with eating disorders: A scoping review. Journal of eating disorders 2022, 10(1):182.
4Wasil AR, et al.: Smartphone apps for eating disorders: A systematic review of evidence-based content and application of user-adjusted analyses. The International journal of eating disorders 2021, 54(5):690-700.
5 Linardon J, Rosato J, Messer M: Break Binge Eating: Reach, engagement, and user profile of an Internet-based psychoeducational and self-help platform for eating disorders. Int J Eat Disord 2020, 53(10):1719-1728.


SIDA-ESS Toolkit

Dieses Toolkit richtet sich an Behandelnde von Essstörungen und wird im Rahmen des Projektes SIDA-ESS weiterentwickelt und evaluiert. SIDA-ESS steht für Strategien zur Integration von evidenzbasierten digitalen Angeboten in die Behandlung von Essstörungen und ist ein vom Bundesministerium für Gesundheit gefördertes Projekt.

 

 

Kontakt

Forschungsstelle für Psychotherapie
Universitätsklinikum Heidelberg
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 Fax: +49 6221 56-7350
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